Was sich in Großbritannien im Rahmen des Brexit abspielt, weist Parallelen zu jemanden auf, der sich beide Beine amputieren lässt, da er glaubt, auf Prothesen schneller laufen zu können.

Gemäß einer Studie von O. Wyman und der Kanzlei Clifford Chance drohen Unternehmen aus der EU nach dem Brexit Mehrkosten (Zölle, andere Handelsbarrieren) in Höhe von 35 Mrd. € p.a., wenn sie die Handelsbeziehungen in der derzeitigen Form weiterführen. Umgekehrt werden auf britische Unternehmen Mehrkosten von 30 Mrd.€ p.a. zukommen.
Ein Mini besteht aus 3.000 Teilen. Mehr als die Hälfte der Teile kommt aus der EU. Dabei ist BMW, wie alle PKW-Hersteller auf der Insel, auf einen reibungslosten Grenzverkehr angewiesen. Nissan schätzt, dass der Brexit das Unternehmen 500 Mio. Pfund p.a. kostet; eine Summe, die die Existenz des Produktionsstandortes Großbritannien in Gänze in Frage stellt.

Vorbereitung auf verschiedene Brexit-Szenarien.

Vor diesem Hintergrund und der nach wie vor völlig offenen Frage, wie es weitergeht, rät der ausgewiesene Supply Chain-Experte Oliver Heyde, der in jüngster Zeit Unternehmen zum Thema Brexit-Folgen berät, sich unter Supply-Chain-Gesichtspunkten auf verschiedene Brexit-Szenarien vorzubereiten.

„Ehrlich gesagt habe ich mit mir gehadert, ob ich diesen Beitrag veröffentlichen soll. Die Lage ändert sich stetig und ist für alle undurchschaubar. Irgendwie habe ich ein Déjà-vu mit dem famosen Millennium-Bug: viel Wind um nichts?

Aus meiner Erfahrung als Interim Manager kann ich bestätigen, dass Unternehmen vermehrt um Alternativlösungen in der Logistik und Supply Chain bemüht sind.
Die Vorstellung einer harten Grenze an der täglich 12.000 – 15.000 LKW abgefertigt werden, ohne dass auf beiden Seiten des Kanals eine ausreichende Anzahl an Zöllnern und die entsprechenden Zollabfertiger bestellt wurden, verschreckt Unternehmen und Verlader auf beiden Seiten gleichermaßen.
Alternativlösungen der Industrie sind überwiegend die Verlagerung der Produktionsstandorte, mit der Konsequenz von Arbeitsplatzverlusten und Industrieller Verödung. Tomas Enders, CEO von Airbus, hat dies bereits vor einigen Wochen angekündigt.

Entwickeln Sie Ihr „Worst Case“-Szenario!

Die Analyse der Folgen des Brexits für Ihr Unternehmen beginnt mit der einfachen Frage: Was kann der Austritt Großbritanniens aus der EU für mein Unternehmen und mein Supply Chain Management bedeuten?
Hier gilt es nicht nur, den Absatzmarkt zu betrachten, sondern auch die Lieferanten (und deren Lieferanten). Wissen Sie, welche Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe Sie aus Großbritannien beziehen? Was passiert, wenn hier keine Lieferungen mehr eintreffen, oder mit 1, 2, vielleicht vier Wochen Verzögerung?
Entwickeln Sie Ihr „Worst Case“ Szenario und prüfen Sie mögliche Risiken und Beeinträchtigungen in Ihrer Supply Chain – und zwar der gesamten Supply Chain.
Konzepte für eine Alternativlösung in der Logistik und Supply Chain sind mit großer Vorsicht und Weitsicht zu behandeln, da eine extrem komplexe Situation vorliegt.
Eine „simple“ wie auch naheliegende Vermeidungsstrategie besteht in der Einrichtung neuer Logistiklager auf beiden Seiten des Kanals, um das Wegbrechen ganzer Märkte zu verhindern.
Honda hat dies für seinen Standort in Swindon einmal ausgerechnet. Wollte Honda alle Teile für das Werk für neun Tage vorrätig haben, bräuchte es ein Lagerhaus von rund 300.000 Quadratmeter. Dies entspricht 42 Fußballfeldern und wäre eines der größten Gebäude der Welt.

Es gibt in der letzten Zeit vermehrt Anfragen kontinentaleuropäischer Betriebe zu Standortthemen in Großbritannien. Aber auch umgekehrt bereiten sich britische Unternehmen durch die Suche und den Aufbau von Standorten und Strukturen außerhalb von Großbritannien auf den Brexit vor. Dies ist ein nachvollziehbarer Schritt, der jedoch hohe Risiken in sich birgt und zu deutlich höheren Kosten führen wird. Insofern bedarf es vielfach einer weitaus komplexeren Analyse und kosteneffizienteren Antwort.

Analysieren Sie Ihre Zuliefererkette!

Auf der Inbound-Seite gilt es, Redundanzen aufzubauen, Lieferanten zu finden, die in der Lage sind, auch ohne Produktionsstätten in Großbritannien lieferfähig zu sein und zu bleiben. Hier sollte man – gerade bei kritischen (Vor-)Produkten genauer hinschauen: Vielleicht sind Sie nicht der einzige Kunde, der eine solche Idee hat? Obwohl schon lange vom „Single Sourcing“ abgeraten wird – was nutzt es, wenn mehrere Ihrer Hauptzulieferer ausschließlich auf Vorprodukte aus Großbritannien angewiesen sind? Analysieren Sie Ihre Zuliefererkette! Für die wichtigsten Artikel scheint das einfach. Gerade bei C-Artikeln kann dies aufwendig werden, ist aber nicht weniger wichtig.

Und was jetzt?

Noch aber ist Zeit, verschiedene Szenarien zu entwerfen, zu prüfen und Problemstellungen zeitgerecht zu evaluieren, um Maßnahmen in die Wege zu leiten. Konkrete Schritte umzusetzen muss nicht unbedingt notwendig sein, zumindest sollte man aber aktiv werden, um beim Eintritt verschiedener Szenarien handlungsfähig zu bleiben. Eine Strategie des robusten ersten Schrittes kann nicht falsch sein – nichts tun aber schon!
Ein guter Ratschlag aus meiner Sicht, ist es, alle Beteiligten auf beiden Seiten Seminare im Konfliktmanagement belegen zu lassen, denn, solange keine Lösung gefunden wird, werden in der Übergangszeit die Emotionen hochkochen und uns an einer klaren Denkweise hindern.